Zuhause

Mutti hat heute Abend sogar mein Lieblingsessen gekocht. Da freue ich mich richtig und nehme mir die größte Maultasche und einen ordentlichen Klecks Kartoffelsalat dazu. Ich habe die erste Gabel schon fast im Mund, als Vater mich finster anschaut. Ups, da war ich wohl mal wieder zu stürmisch. Eigentlich warten wir immer, bis jeder etwas hat und sprechen unser Tischgebet. Ich entschuldige mich und starre leicht beschämt nach unten. Und dann passiert etwas Komisches, das mir direkt den Appetit verdirbt. Vater erwähnt, dass er heute einen Zettel von meinem Schularzt erhalten hat. Diesem ist bei der üblichen Untersuchung aufgefallen, dass ich wohl zu dünn bin. Vater sagt, dass sich das Dr. Braun nochmal anschauen soll. Den Dr. Braun mag ich gar nicht, der ist immer so grob und ernst. “Muss das sein?”, denke ich und schaue Mutti an. Mutti schaut zu Vater und dann zu mir. Sie stimmt ihm zu. Mhm, na toll. Nur weil ich ein bisschen dünner bin als die anderen, bin ich doch noch nicht krank. Ich muss an den letzten Termin denken, wo ich eine große Spritze bekommen habe. In mir zieht sich alles zusammen. Trotz der lecker duftenden Maultaschen, bekomme ich gerade nichts runter. Vater fühlt sich bestätigt, weil ich nun nichts esse und Mutti sagt, sie ruft morgen direkt beim Arzt an.

Autorität und Patriarchat

Die Gesellschaft des Nachkriegsdeutschland war geprägt von einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur. In weiten Bereichen des öffentlichen Lebens hatten Männer die absolute Vorherrschaft, innerhalb der Familie bildeten sie (der Vater) das “Familienoberhaupt”, dem nicht widersprochen werden durfte.

Auch war die Gesellschaft geprägt von einem Geist des Autoritarismus, bezeichnend ist hierfür das Radfahrerprinzip ”Det is’n richtiger Radfahrer, der! Nach unten tritt er - nach oben macht er’n Puckel” (Zuckmayr 2012).

Anordnungen von als natürlich empfundenen Autoritäten wie den “Göttern in weiß” wurden häufig nicht hinterfragt.

Ein Zitat aus einem Ratgeber zum Aufbau von Kinderkurheimen kann verdeutlichen, dass patriarchale Strukturen im ideologischen Überbau der Kinderkurheime mitgedacht wurden: “Eine Oberin, Oberschwester oder leitende Schwester ist in jeder Kinderkuranstalt notwendig. Ihr untersteht die Beaufsichtigung und Führung des gesamten Pflege- und Betreuungspersonals und der übrigen weiblichen Angestellten, soweit diese in Haus, Küche und Wäscherei arbeiten” (Kleinschmidt S.28 Hervorhebungen die Autoren)

Erziehungsideale

Auch wenn die Geschichte der Pädagogik in der BRD nicht als monolithischer Block zu betrachten ist und spätestens Anfang der 1970er Jahre auch andere Konzepte (wieder-) entdeckt und erprobt wurden, so blieb lange Zeit der Geist der Werke von Johanna Haarer in den Köpfen deutscher Eltern lebendig, der vor allem durch die Sorge gekennzeichnet war, ein Kind könnte zu sehr verhätschelt werden.

Spezifische Bedürfnisse von Kindern galt es aus dieser Perspektive höchstens dann zu berücksichtigen, wenn sie mit den Bedürfnissen der Erwachsenenwelt korrespondierten.

Zitate

„Bei uns gab es kein ‚Ich hab dich lieb.’.”

– verschickt 1966, damals 3 Jahre

„Also da war ein Bericht von einer Frau in Marbach, der hat man in den Rücken gestoßen und jetzt ist sie traumatisiert. Also meine Mutter hat mich ständig in den Rücken gestoßen, hat gesagt: ‚Setz dich gerade!‘. Aber, dass man dann traumatisiert ist, weil man 'nen Stoß in den Rücken bekommen hat. [Rückfrage Interviewerin: Sie können sich aber vorstellen, dass so etwas schon passiert ist] Jaja, das ist schon passiert, aber das muss man doch nicht in die Zeitung schreiben, aber ich hab auch gesagt zum Herr [...] alle die traumatisiert sind, warum hat die Familie das nicht aufgefangen?”

– Erzieherin in Kinderkurheim von 1963-2000

Quellen & Links

Zuckmayer, C. (2012). Der Hauptmann von Köpenick: Ein deutsches Märchen in drei Akten. Fischer Taschenbuch. Kleinschmidt, H. (1964). Über die Durchführung von Kindererholungs- und Heilkuren. In Folberth, Sepp (Hrsg) Kinderheime Kinderheilstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Östereich und der Schweiz. Pallas Verlag